Wenn es denn so ist, daß ästhetische Erfahrung, Kreativität und
Phantasietätigkeit in dem Erziehungsprozeß von Heranwachsenden die bisher
aufgezeigte Bedeutung hat, dann drängt sich die Frage auf, ob es denn außerhalb
des schul- bzw. kunstpädagogischen Bemühens noch andere „Experimentierräume“ für
Kinder und Jugendliche geben sollte.
Eine Antwort darauf entstand, als Joseph Beuys bei der Erweiterung des
Kunstbegriffes durch Aktion, eine grundlegende Auseinandersetzung mit den
Begriff „Plastik“ anregte. Seiner Meinung nach entsteht eine Plastik durch das
Zusammenwirken dreier Grundkräfte, nämlich der Kraft des Chaos, der Kraft der
Form und der Kraft der Bewegung.
Unter Chaos versteht er das eigentliche plastische Element die amorphe Masse;
unter Form das Verstandesmäßige, Geistige; und unter Bewegung die körperliche
und gedankliche Arbeit, die notwendig ist, die amorphe Substanz, das Chaotische
in eine Form zubringen, zu strukturieren.
Diese Theorie der Plastik impliziert den Begriff „soziale Plastik“, denn nimmt
man als ungeformte Substanz nicht die konventionellen bildnerischen Mittel wie
z.B. Stein, Gips, Holz oder Ton, sondern das Bewußtsein der Menschen oder einer
menschlichen Gruppe, und betrachtet man als Form die Vorstellung von seiner bzw.
ihrer „optimalen“ Gestalt, so ist körperliche und geistige Arbeit (gleich
Bewegung) nötig, um dieses Bewußtsein zu formen bzw. diese Menschengruppe in
eine bestimmte Organisationsform zu bringen.
Jede materielle und immaterielle Substanz kann also „ Chaos“ sein, jede
Vorstellung von der Gestalt einer solchen Substanz ist Form und jeder Weg dahin
ist geistige und körperliche Bewegung.
Aus dieser Überlegung resultiert nicht nur, das alles formbar ist, sondern auch,
das im Grunde jeder formen kann.
Daß eine Beschränkung der Fähigkeit zu formen auf den Künstler ebenso
irreführend und unangebracht ist wie eine Beschränkung des zu Formenden auf die
tradierten bildnerischen Materialien .
Die Fähigkeit zu formen, kreativ zu sein, verkümmert jedoch bei vielen Menschen
durch mangelndes Training sich zu artikulieren (ganz gleich auf welchen
Gebieten), sich frei entsprechen ihrer Interessen und Begabungen zu entwickeln.
( M. Jochimsen, Kunstforum international, Köln, 1978, Seite 76 ).
Der Grund allen Übels seien, so Beuys, die etablierten Gesellschaftssys-teme,
die weder in der Lage noch Willens sind, den Menschen ein freies und ihren
Bedürfnissen entsprechendes Leben zu gewähren.
Selbstbestimmung so glaubt Beuys, ist nötig um für den Menschen eine freie
Entfaltung zu erreichen. ( Beuys In:M. Jochimsen, Kunstforum international,
Köln, 1978 S.76)
Der hier beschriebene Umgang mit dem (auch eigenen) Chaos, deren Formung und die
dazu benötigte Bewegung sollte der Ausgangspunkt der kreativen Arbeit mit Kinder
und Jugendlichen sein. Die im schulischen Alltag angeregte Fähigkeit zu formen
und zu gestalten sollte auch in dem sozialen Lebensraum „Freizeit“ wie ein
Muskel angeregt werden, um einer Verkümmerung entgegenzuwirken. So lautet die
von mir aufgestellte These:
Schöpferisches und kreatives Tätigsein in der Arbeit und im Umgang mit Kinder
und Jugendlichen, ist präventive Arbeit. Erlernen Kinder und Jugendlich im
Alltag, Wahrnehmungen, Gefühle und Auseinandersetzungen in bildnerischer,
plastischer oder musischer Form zu bringen, kann das eine dauernde Erfahrung von
Konflikbewältigung sein.
Dieses Bewußtsein kann durch Kunst, aber auch sich künstlerischer Anregung
bedienender, sozialpädagogische Arbeit geweckt und gefördert werden.
Das Besondere der kreativen Auseinandersetzung außerhalb eines Lehr- und
Bewertungskontextes wachzuhalten und als stärkende Kraft in das Erwachsensein
hinüberzunehmen, sollte als Teil des sozialpädagogischen Auftrags in der Kinder-
und Jugendsozialpädagogik verstanden und methodisch umgesetzt werden.
Diese These soll im Folgenden, im Zusammenhang mit der Aggression und
Interaktion, bekräftigt werden.