6 Das Präventive der kreativen Gestaltung in der Kinder- und Jugendsozialarbeit

Wenn es denn so ist, daß ästhetische Erfahrung, Kreativität und Phantasietätigkeit in dem Erziehungsprozeß von Heranwachsenden die bisher aufgezeigte Bedeutung hat, dann drängt sich die Frage auf, ob es denn außerhalb des schul- bzw. kunstpädagogischen Bemühens noch andere „Experimentierräume“ für Kinder und Jugendliche geben sollte.
Eine Antwort darauf entstand, als Joseph Beuys bei der Erweiterung des Kunstbegriffes durch Aktion, eine grundlegende Auseinandersetzung mit den Begriff „Plastik“ anregte. Seiner Meinung nach entsteht eine Plastik durch das Zusammenwirken dreier Grundkräfte, nämlich der Kraft des Chaos, der Kraft der Form und der Kraft der Bewegung.
Unter Chaos versteht er das eigentliche plastische Element die amorphe Masse; unter Form das Verstandesmäßige, Geistige; und unter Bewegung die körperliche und gedankliche Arbeit, die notwendig ist, die amorphe Substanz, das Chaotische in eine Form zubringen, zu strukturieren.
Diese Theorie der Plastik impliziert den Begriff „soziale Plastik“, denn nimmt man als ungeformte Substanz nicht die konventionellen bildnerischen Mittel wie z.B. Stein, Gips, Holz oder Ton, sondern das Bewußtsein der Menschen oder einer menschlichen Gruppe, und betrachtet man als Form die Vorstellung von seiner bzw. ihrer „optimalen“ Gestalt, so ist körperliche und geistige Arbeit (gleich Bewegung) nötig, um dieses Bewußtsein zu formen bzw. diese Menschengruppe in eine bestimmte Organisationsform zu bringen.
Jede materielle und immaterielle Substanz kann also „ Chaos“ sein, jede Vorstellung von der Gestalt einer solchen Substanz ist Form und jeder Weg dahin ist geistige und körperliche Bewegung.
Aus dieser Überlegung resultiert nicht nur, das alles formbar ist, sondern auch, das im Grunde jeder formen kann.
Daß eine Beschränkung der Fähigkeit zu formen auf den Künstler ebenso irreführend und unangebracht ist wie eine Beschränkung des zu Formenden auf die tradierten bildnerischen Materialien .
Die Fähigkeit zu formen, kreativ zu sein, verkümmert jedoch bei vielen Menschen durch mangelndes Training sich zu artikulieren (ganz gleich auf welchen Gebieten), sich frei entsprechen ihrer Interessen und Begabungen zu entwickeln. ( M. Jochimsen, Kunstforum international, Köln, 1978, Seite 76 ).
Der Grund allen Übels seien, so Beuys, die etablierten Gesellschaftssys-teme, die weder in der Lage noch Willens sind, den Menschen ein freies und ihren Bedürfnissen entsprechendes Leben zu gewähren.
Selbstbestimmung so glaubt Beuys, ist nötig um für den Menschen eine freie Entfaltung zu erreichen. ( Beuys In:M. Jochimsen, Kunstforum international, Köln, 1978 S.76)
Der hier beschriebene Umgang mit dem (auch eigenen) Chaos, deren Formung und die dazu benötigte Bewegung sollte der Ausgangspunkt der kreativen Arbeit mit Kinder und Jugendlichen sein. Die im schulischen Alltag angeregte Fähigkeit zu formen und zu gestalten sollte auch in dem sozialen Lebensraum „Freizeit“ wie ein Muskel angeregt werden, um einer Verkümmerung entgegenzuwirken. So lautet die von mir aufgestellte These:
Schöpferisches und kreatives Tätigsein in der Arbeit und im Umgang mit Kinder und Jugendlichen, ist präventive Arbeit. Erlernen Kinder und Jugendlich im Alltag, Wahrnehmungen, Gefühle und Auseinandersetzungen in bildnerischer, plastischer oder musischer Form zu bringen, kann das eine dauernde Erfahrung von Konflikbewältigung sein.
Dieses Bewußtsein kann durch Kunst, aber auch sich künstlerischer Anregung bedienender, sozialpädagogische Arbeit geweckt und gefördert werden.
Das Besondere der kreativen Auseinandersetzung außerhalb eines Lehr- und Bewertungskontextes wachzuhalten und als stärkende Kraft in das Erwachsensein hinüberzunehmen, sollte als Teil des sozialpädagogischen Auftrags in der Kinder- und Jugendsozialpädagogik verstanden und methodisch umgesetzt werden.
Diese These soll im Folgenden, im Zusammenhang mit der Aggression und Interaktion, bekräftigt werden.

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